Die Sache mit der Unwissenheit.

Gute Schuhe wählen. Immer.

Oder: Hab ich eigentlich nix Gescheites gelernt?

Ich weiß nicht genau warum, aber irgendwie mag ich viele dieser Worte, die mit „Selbst“ beginnen nicht sonderlich gerne. Selbstbewusstsein: klingt irgendwie meh. Selbstfürsorge: ganz, ganz schlimm – da krampfe ich innerlich gleich mal zusammen. Selbstbetrug: klingt nicht nur elend, ist es auch. Selbstverwirklichung, Selbstachtung, Selbstkritik, Selbstvertrauen, Selbsterfahrung. Das einzige Wort, das ich neutral bis positiv besetzt aufnehmen kann ist Selbstverständnis. Lässt das tief blicken? Möglicherweise. Vielleicht ist es aber auch einfach eine Schrulle. So wie ich die Farbe Orange beispielsweise ganz, ganz anstrengend finde.

Unter Umständen liegt es aber auch daran, dass diese „Selbst“-Wörter Begriffe umschreiben, Fähigkeiten und Eigenschaften benennen, die ich zwar aufweisen kann, von denen ich aber häufig das Gefühl habe, dass ich darin besser sein müsste. Ironischerweise ist in der oben genannten Aufzählung nichts enthalten, das für mich selbstverständlich ist, mit Ausnahme des Selbstverständnisses. Ich wage aber zu behaupten, dass es das Ziel vieler Menschen ist, und da nehme ich mich keinesfalls aus, all dieses „Selbsts“ zu einem Selbstverständnis werden zu lassen. Oder zumindest selbstverständlicher.

Ich hatte Anfang dieser Woche ein therapeutisches Gespräch. Das Leben ist ja derzeit nicht so leicht für mich und ich habe gemerkt, dass ich alleine nicht weiterkomme und mich austauschen muss mit jemandem, der in fundierter Hilfestellung für Menschen in schlechten Phasen begabt und ausgebildet ist. Glücklicherweise kenne ich solche Menschen.

Im Rahmen dieses Gesprächs habe ich festgestellt, dass ich mit vielen Themen und Problemen meines Lebens ganz gut umgehe, dass ich das meiste davon auch in Worte fassen und somit für mein Gegenüber verständlich und nachvollziehbar machen kann. Was ich aber ebenfalls bemerkt habe, und zwar mit einigem Erstaunen, ist, dass ich vor allem bei einem vorgeschlagenen Lösungsansatz absolut keine Ahnung hatte, wie ich den umsetzen könnte. Nicht mal, nach ein bisschen darüber nachdenken.

Im Gespräch ging es viel um mein Dauerthema: das Alleinsein.
Ich bin mit sehr vielen Dingen in meinem Leben allein. Das war irgendwie immer schon so, wenngleich in den meisten Fällen nicht beabsichtigt. Bereits in meiner Kindheit musste ich Dinge oft alleine aushalten, oder erst einmal alleine mit mir rumtragen, weil ich keine Bezugsperson hatte, der ich mich zeitnah und kontinuierlich anvertrauen konnte. Als ich ein Teenager war, waren mein Leben und meine Lebensumstände im Vergleich zu jenen meiner Altersgenossen oft ganz anders. Die Konflikte in meiner Familie waren größer, das machte meinen Alltag anstrengender, meine Noten schlechter, den Druck schlimmer und die Motivation all das zu lösen irgendwann zunichte. Und dass ich ADHS habe, wusste ich gar nicht. Ich wusste nur, dass ich für meine Mitmenschen entweder zu viel, oder zu wenig war. So zumindest war der Tenor.

Daraus ergab sich, dass ich auch hier wieder vieles alleine durch die Gegend geschleppt habe. Mein naives Ziel war es, zu einem jener Charaktere zu werden, die alles mit sich selbst ausmachen und niemanden mehr brauchen im Leben. Also ein vermeintlicher Teenager-Archetyp, der in den Serien der 90er Jahre überwiegend männlich besetzt war. Jordan Catalano oder Dylan MacKay fallen mir da spontan ein. So, dachte ich damals, wollte ich auch sein: verschlossen und unabhängig, niemanden brauchen, sich nach niemandem sehnen.

Ich habe mir nie die Frage gestellt, ob es eigentlich normal ist, vieles mit sich alleine ausmachen zu müssen. Ob es normal ist, dieses Gefühl des „Verlassen seins“. Es war so.

Ich hatte natürlich Freunde und Freundinnen und ich habe natürlich auch mit ihnen über meine Themen gesprochen. Aber vieles war für sie nicht nachvollziehbar. Und ich wollte auch nicht die sein, die immer mies drauf ist und alle runterzieht und mit der man keinen Spaß haben kann. Also war ich’s auch nicht. Zumindest war ich darum bemüht, diese Person nicht zu sein. Ich fühlte mich eigentlich oft wie das Problemkind, der schwierige Teenager. So wollte ich aber nicht wahrgenommen werden. Vor allem glaube ich heute, dass ich das tatsächlich auch nie war.

Als ich älter wurde, wurden diese Themen weniger drängend. Mein Leben wurde anders, vieles wurde durch das Zurücklassen meines Elternhauses, oder genau genommen meiner Elternhäuser besser. Im Laufe meiner Beziehungen bekam ich zwar immer wieder das Feedback, dass ich nicht besonders versiert darin wäre, zu erzählen was wirklich in mir vorgeht, aber es war eigentlich kein zentrales Konfliktthema. Außerdem arbeitete ich ja auch an mir. Mit einer Essstörung kam die Psychotherapie in mein Leben und davon habe ich stark profitiert.

Einen Allein-sein-Leidensdruck verspürte ich erst wieder, als ich Mutter wurde. Die ersten Jahre mit den Kindern waren oft einsam. Diese Art von Einsamkeit, bei der man nie alleine ist, aber trotzdem nicht verbunden. Damit meine ich nicht meine Kinder: denen fühle ich mich immer zutiefst verbunden. Es ist nur einfach so, dass Kinder bedürftig sind und sehr viel brauchen. Ich gebe ihnen immer gerne, nur hätte ich mich irgendwie schon viel früher auch darum kümmern müssen, dass ich mich selbst wieder auffülle. Nur wusste ich nicht wie.

Und das ist der springende Punkt: Ich bin mittlerweile schon so lange in meinem Allein-Sein-Trott. Ich habe ihn sehr lange als gesetzt betrachtet. Ich kannte es auch nur unwesentlich anders. Vor allem habe ich aber scheinbar nie gelernt, eine Strategie zu entwickeln wie ich damit so umgehen kann, dass aus dem Alleinsein keine Einsamkeit wird. Das sind nämlich zwei Paar Schuhe. Und Einsamkeit ist definitiv ein sehr unbequemer Schuh, mit dem man nicht weit kommt. Zum einen reibt er die Füße wund und verursacht schmerzhafte Blasen, zum anderen ist er einfach ganz und gar nicht für längere Strecken gedacht.

Dennoch war ich so auf das Aushalten, Durchhalten und damit Klarkommen fixiert, dass ich mir nie Gedanken darüber gemacht habe, was ICH für MICH machen könnte, um den Schmerz zu lindern. Ich fand es erst mal naheliegend, mir mehr Zeit mit meinem damaligen Partner zu wünschen, ich hab viel mit Freund:Innen telefoniert, mit der Familie. Aber das brachte immer nur eine kurze Linderung. Blasenpflaster, um beim Bild zu bleiben. Hilft alles nix, wenn man am Ende wieder in diesen bescheuerten Schuh schlüpfen und weiter über Kopfsteinpflaster staksen muss. (Ja, in meinem Kopf ist die Einsamkeit hochhakig. Ich habe allerdings auch diverse Sneakers und Boots die regelmäßig für Blasen sorgen. Und das meine ich gerade nicht im übertragenen Sinn …)

Zum Schuster, sprich zur Therapie, ging ich erst, als alles schon sehr schlimm war. Das hat mir auch geholfen, ebenso wie die SSRI-Medikation gegen meine Depressionen. Es hat geholfen, aber es hat mich bisher noch nicht geheilt. Ist vielleicht auch gerade viel verlangt. In den letzten 5 Jahren meines Lebens haben sich so viele Dinge ereignet, die eher zusätzliche Wunden verursacht haben. Die werde ich also noch eine Weile auf- und abarbeiten müssen.

Und natürlich hätte so einiges auch einfach anders laufen müssen. Dinge die außerhalb meines Einflussbereichs und durchaus auch in der Verantwortung meines Umfeldes lagen. So war es nun mal nicht. Das kommt vor im Leben.

Somit wäre eigentlich ein Schuhwechsel angesagt, oder? Nur wie? Wie kommt man aus diesen Schuhen raus? Und das war auch die Frage, die mich wirklich sprachlos machte. Die Therapeutin wollte von mir folgendes wissen: „Wie kannst du dir selbst in dieser Einsamkeit helfen?“.Ich gestehe, ich hatte und habe irgendwie keine Ahnung.

In meinem Kopf war das immer folgendermaßen: gegen Einsamkeit hilft Gesellschaft, also schau, dass du mit Menschen in Kontakt kommst. Ist ja auch logisch. Aber ist es immer machbar? Gegen tiefe Einsamkeit hilft vermutlich am ehesten tiefe Verbindung. Aber die gibt es ja gar nicht in rauen Mengen. Und es gibt sie vor allem nicht auf Abruf. Nicht wenn man in seinen Vierzigern ist, alleinerziehend, Single – und grundsätzlich schon erschöpft und angeschlagen. Ich hoffe sehr, so eine tiefe Verbindung irgendwann wieder erleben zu dürfen. Und ja, damit meine ich eine Paarbeziehung. Natürlich sind Freundschaften Balsam, aber alle meine Freund:Innen stehen nun mal auch mitten in einem stürmischen und vollen Leben und haben ihre eigenen Struggles. Und eine Paarbeziehung ist halt auch einfach anders. Zumindest für mich. Die ist aber nicht in Aussicht.

Wie helfe ich mir also, wenn das, von dem ich weiß, dass es mir besonders gut tun würde gerade nicht greifbar ist? Wie kann ich lernen, mich selbst zu halten, wenn niemand sonst es tut? Ich musste diese Fragen an meine Therapeutin zurückgeben. Offensichtlich habe ich diesbezüglich bisher nichts gelernt in meinem Leben.

Warum nicht? Warum habe ich das nicht gelernt?
Ich vermute, meine Eltern konnten mir das nicht beibringen, weil sie es soweit ich weiß für sich selbst nicht können. Darüber hinaus, war es in den 80ern nicht besonders verbreitet, Kinder durch ihre Gefühle zu begleiten, beim Benennen der Emotionen zu helfen, auszutexten, wofür Kinder oft noch keine Worte haben und wenn sie dann Worte haben, um sich zu artikulieren, auch auszuhalten, was sie sagen. Zumindest bei mir lief das weitgehend nicht so.

Aber in den vielen Lebensjahren danach habe ich auch nicht besonders viel dazu gelernt. Ich habe mich immer eher einfach gefügt, die Zähne zusammengebissen und auf bessere Zeiten gehofft, auf diese hingearbeitet und manchmal auch versucht sie zu erzwingen. Das ist mit Sicherheit mein eigenes Versäumnis. Das Problem ist halt: wenn man nicht weiß, was man wissen muss, damit es einem nicht schlecht geht, weiß man ja auch nicht, was man lernen soll, damit es einem besser geht. Und wenn man obendrein meint, man wüsste, was man braucht, dann glaubt man doch, man weiß Bescheid und kommt gar nicht auf die Idee, dass man zu wenig oder das Falsche weiß. Darüber hinaus weiß man oft nicht, dass es einem schlecht geht, weil man gar nicht weiß, wie es einem gehen könnte, wenn man wüsste, dass es einem schlecht geht und man machte, was man bräuchte, damit es besser wird.

Sokrates hat es absolut verdient, dass wir auch heute noch über ihn sprechen. Der hat den einzigen logischen Schluss in einen Satz gepackt. Wow.

Und somit sind wir wieder beim Einstieg in diesen Text: bei den ungeliebten Selbst-Wörtern, die mich verrückt machen und mit Unbehagen und Druck füllen. Und tatsächlich sehe ich die Möglichkeit, dass diese negativen Emotionen daher rühren, dass ich beispielsweise mit Selbstfürsorge und Selbstliebe keinen wirklichen Vertrag habe. Leider, leider kann ich da nur sagen. Allerdings ist es noch nicht zu spät! Platt könnte man auch sagen: dafür ist immer der richtige Zeitpunkt. Und tatsächlich kann ich freudig zugeben, dass meine erste Übung in diesem Kontext recht erfolgreich war.

Ich mache mir in den letzten Tagen immer wieder bewusst, dass dieses Gefühl, oder dieser Gefühlskomplex, der mir so zusetzt, da ist und schwer und nicht gut erträglich. Und dass es nicht nur in Ordnung ist, das wahrzunehmen, sondern sogar sehr wichtig.

Ich habe kürzlich ja mal mein Sammeln des „Tagesschönem“ erwähnt. Meine Aufgabe ist aber für die nächste Zeit auch die Traurigkeit wahrzunehmen und diesen Momenten denselben Stellenwert einzuräumen wie meinen Tagesschönen. Ich darf sie dann gerne wieder beiseitelegen, sofern das möglich ist. Aber es geht darum, meiner Traurigkeit, meiner Einsamkeit, wenn sie mir auf die Schultern klopft, kurz innehalten und wahrnehmen und anerkennen, dass das so ist. Also hinschauen, wenn ich eine neue Blase am geschundenen Fuß entdecke. In dem Wissen, das niemand kommen wird, der mich stützt, oder mir ein Blasenpflaster reicht. In dem Wissen, dass ich das jetzt erst mal alleine deichseln werde. Und auch in dem Wissen, dass ich durchaus die Fähigkeiten besitze, meinen Schmerz selbst ein bisschen zu lindern. Nicht weil ich niemanden brauche und alles mit mir selbst ausmache. Nein, das ist so nämlich nicht und so war es im Prinzip auch noch nie in meinem Leben.

Sondern weil ich der Mensch bin, der für mich da ist. Schon mein ganzes Leben lang. Ich bin die treueste Expertin für mich selbst, die weiß, dass sie nicht alles weiß, aber die dazulernen wird, weil sie sich selbst gerne mag und sich wünscht, dass es mir besser geht. Ich bin bis zu einem gewissen Grad mein eigener Schuster, mein Blasenpflaster und ich arbeite derzeit hart an der Erweiterung meines Schuhsortiments. Und daran, in Zukunft bessere Bilder zu verwenden.

Ich will damit nicht sagen, dass Einsamkeit nicht schlimm ist und wir uns alle an den eigenen Haaren aus jedem Schlamassel ziehen lernen müssen. Nein. Ich möchte nur darüber berichten, dass es für mich sehr wohltuend war, die Möglichkeit aufgezeigt zu bekommen, dass ich das auch alleine schaffen kann. Zumindest für eine Weile. Und es gibt mir irgendwie eine innere Ruhe, dass sich das womöglich gar nicht qualvoll anfühlen muss. Auf die Idee war ich bisher noch nie gekommen.

Vielleicht bin ich ein Unikum. Vielleicht habe ich diese Lektion einfach verschlafen. Möglicherweise gibt es aber Menschen, denen es ähnlich geht. Und die auch schon mehr Blasen haben, als Blasenpflaster. Deswegen möchte ich das teilen. Selbst wenn es nur einer weiteren Person hilft, die wie ich durch’s Leben stakst und davon einfach schon müde ist.


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