Oder: Verbiegen üben lieber beim Yoga!
Ich verkleide mich grundsätzlich total gerne und bei jeder Gelegenheit. Menschen, die total gegen Kostümierung sind, betrachte ich – zumindest kurzfristig – mit Argwohn. In andere Rollen zu schlüpfen, mit Kleidung und MakeUp zu experimentieren macht mir persönlich sehr viel Spaß, ich kann aber verstehen, dass es nicht für jeden total witzig ist, sich Kontaktlinsen in die Auge zu geben, sich mit Farbe vollzupinseln und unter einer Perücke zu schwitzen, während das Korsett zwickt, oder einem langsam schwant, dass man beim Ausdenken der Verkleidung nicht bedacht hat, dass man früher oder später die Toilette wird aufsuchen müssen. Oder dass man eventuell Probleme bekommen könnte, wenn man ins Taxi steigen möchte, weil man für einen Abend etwas ungewöhnliche Ausmaße hat.
Ich möchte hier aber über eine andere Art von Maskierung sprechen. Eine, die viel weniger ins Auge sticht. Manchmal leider, manchmal Gott sei Dank. Unter Maskieren versteht man nämlich im Zusammenhang mit ADHS das Verbergen, oder Kompensieren von Symptomen, um weniger aufzufallen, sich besser anzupassen, um sich negative Begegnungen und Erfahrungen zu ersparen und eventuell auch, um sich im Umfeld anderer Menschen etwas wohler zu fühlen.
Überspitzt und negativ formuliert würde ich sagen: es ist ein schmerzhaft erlerntes Verbiegen seiner selbst, um Akzeptanz zu erfahren und sich zu schützen.
So zumindest seh ich es, wenn ich darüber in der Rückschau nachdenke. Bis ich es drauf hatte, für mein Umfeld unerwünschte oder vielleicht auch unbequeme Verhaltensmuster und Reaktionen durch akzeptable und bekömmliche zu ersetzen, gingen einige Jahre ins Land. Und ich war noch ein Kind und konnte gewisse Abläufe nicht so zackig entschlüsseln und entsprechend anpassen. So bitter, wie das gerade klingt, meine ich es gar nicht. Aber es ist eben schon eine Tatsache, dass ich mich, seit ich mich erinnern kann, immer davor gefürchtet habe, andere Menschen mit meinem Verhalten vor den Kopf zu stoßen, ohne zu wissen warum und wodurch ich das tue. Das ist jetzt im Prinzip vielleicht weniger ein ADHS-spezifisches Thema und eventuell sogar ein Thema, dass Frauen im Vergleich häufiger betrifft. Das ist mir schon klar.
Aber es ist für Personen mit ADHS mit Sicherheit von Kindheit an ein präsenteres, wenn nicht sogar ein drängenderes Thema. Kinder wollen ja akzeptiert, angenommen und liebgehabt werden. Ganz generell. Das ist für eine gute Entwicklung superwichtig. Und Kinder lernen schnell, was es braucht, damit ihnen ihre Bezugspersonen wohlwollend und liebevoll begegnen. Der Vollständigkeit halber sag ich es jetzt dazu: man sollte Kindern grundsätzlich wohlwollend und liebevoll begegnen. Immer. Allen. Das heißt ja nicht, dass man keine Grenzen setzen darf, es heißt nur, dass der Akt des Grenzen Setzens mit Wohlwollen und Liebe im Hintergrund vermutlich anders aussieht als mit Frust und Ablehnung.
Wie auch immer: Ich bekam als Kinde häufig das Feedback, dass meine Reaktionen auf Ereignisse und Dinge „so anders wären, als bei anderen“. „Warum kannst du dich denn nicht einmal so freuen, wie die anderen Kinder“, „warum musst du denn deswegen schon wieder weinen?“, „warum musst du denn immer so empfindlich sei, du Mimöschen“. Alles nicht nett, aber regelmäßig auf Sendung.
Also habe ich mich instinktiv um eine Optimierung meiner sozialen Anpassung bemüht. Ich wollte akzeptiert werden und nicht den Missmut meiner Bezugspersonen hervorrufen. Ich wollte ja sein wie die anderen! Allerdings wurde mir schon recht bald bewusst, dass ich es möglicherweise nicht bin, aus welchen Gründen auch immer.
Ich finde es immer so schade, dass ich so viel Zeit darauf verwendet habe – vor allem Zeit meiner Kindheit und Jugend -, mich selbst zu verschleiern und am Riemen zu reißen. Diese Zeit wäre besser investiert gewesen, in sich selbst annehmen, Strategien finden, wie ich auch wenn ich so anders bin, als die anderen gut klar komme, ohne mich übermäßig zu verbiegen. Das versuche ich bei meinen Kindern ganz anders zu machen.
Und darüber hinaus bin ich der Meinung, dass das ein Themenkomplex ist, der uns allen auch unabhängig von ADHS beschäftigen sollte.
Die Sache mit dem Maskieren ist zusammengefasst also die:
Menschen möchten sich angenommen fühlen und soziale Akzeptanz erfahren. Auf Grund dessen, verbergen sie aber möglicherweise diverse Symptome und Macken. Meistens, aus der Erfahrung heraus, dass ihr wahres Selbst nicht unbedingt auf uneingeschränkte Euphorie bei den Mitmenschen stößt. Im Fall von Personen mit ADHS kann das zu einer zusätzlichen kognitiven Belastung und dadurch zu Stress und Ermüdung führen. Im schlimmsten Fall kann langfristiges Maskieren möglicherweise sogar seinen Beitrag zu psychischen Problemen wie Depressionen und Angstzuständen leisten. Weil es einfach Dauerstress ist, der oft nicht einmal mehr wahrgenommen wird. Man entfernt sich ein bisschen von sich selbst und weiß irgendwann gar nicht mehr, wer genau man ist und was man braucht.
Ich möchte so gerne sagen: Werden wir doch alle ein bisschen toleranter! Seien wir einfach wir selbst und haben uns alle lieb. Aber das wäre natürlich Unfug und zu viel verlangt. Innerhalb einer Gesellschaft, einer Familie, im Kontakt mit anderen Menschen ist es eine großartige und wichtige Fähigkeit, dass wir uns anpassen können.
Deswegen sage ich lieber, lasst uns auf die Menschen hinschauen, auf unsere Kinder: Ist das eine Maske an deiner Persönlichkeit? Warum trägst du sie? Trägst du sie immer? Kann ich sehen, was sich dahinter verbirgt? Kannst du mir helfen zu verstehen, warum du meinst, sie zu brauchen?
Ich möchte mich komplett dem Idealismus hingeben und behaupten: wenn wir das bei den Menschen in unserem engsten Umfeld machen, dann ist das schon so eine große Sache. Echte Neugierde! Wie toll! Wenn wir mit unseren Kindern einen Umgang pflegen, in dem Urteil und Wertung weniger Relevanz haben, als Anteilnahme und Interesse, kann das große Wellen schlagen. Für uns alle, und natürlich auch für alle Menschen, deren Gehirn eben aus diversen Gründen etwas anders funktioniert.
Und ihr Mit-ADHSlers: wenn ihr euch zukünftig verbiegen wollt, dann vielleicht lieber beim Yoga? Wendet euch an Menschen, denen ihr vertraut. Seid ehrlich zu ihnen. Erzählt und zeigt und erklärt. Das ist schwer und es fühlt sich möglicherweise auch seltsam an. Aber es kann euch gut tun! Es liegt in unser aller Verantwortung, dass der Umgang mit Neurodiversität ein gesunder wird. Weg vom Stigma.
Also: an diesem Tag der Masken rufe ich somit dazu auf, hinter die Masken zu schauen und sich unter den Masken hervorzuwagen.
In der Hoffnung, dass es wirklich so wenig Psychopathen gibt, wie es immer heißt. (Ja, schlechter Scherz. Aber Halloween. Boo!)
Schreibe einen Kommentar